CLASSICS 180° – Was Sie erwartet
Lernen Sie den «Feuervogel» kennen, bevor dieser in ganzer Pracht erklingt. Die Musiker*innen des Aurora Orchestra, Dirigent Nicholas Collon und Tom Service erläutern Strawinskis Werk – in Worten, mit Choreografie und Instrumentalspiel – bevor sie zum Tutti-Spiel ausholen. Stets auswendig und in freier Bewegung auf der Bühne.
Die erste Konzerthälfte beginnt mit einer musikalischen Überraschung, gefolgt vom G-Dur-Klavierkonzert von Maurice Ravel, gespielt vom Ausnahmepianist Alexandre Tharaud.
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2025 feiert das Aurora Orchestra sein 20-jähriges Bestehen. Gegründet von Nicholas Collon, Robin Ticciati und Mitgliedern des National Youth Orchestra, hat es sich nichts weniger als einen neuen Zugang zu klassischer Musik auf die Fahnen geschrieben: durch Spiel im Stehen und ohne Noten, durch unkonventionelle Projekte und innovative Konzertformate. Dass dieses Konzept aufging, beweisen Auszeichnungen wie der Echo Klassik oder gleich mehrere Music Awards der Royal Philharmonic Society. Das Londoner Orchester hat zudem etliche Bildungsprogramme initiiert, es veranstaltet Workshops und Erzählkonzerte und arbeitet mit Schulklassen zusammen. Auch bei den Proms war es regelmässig zu Gast, 2014 mit der spektakulären Premiere von Benedict Masons «Meld» sowie in den letzten Jahren mit Werken von Beethoven und Strawinski.
Auch mit Anfang 40 darf man Nicholas Collon noch zu den jungen Wilden des Klassikbetriebs zählen. Vor 20 Jahren, als Bratscher des National Youth Orchestra, gründete er zusammen mit Robin Ticciati und einigen Mitstreitern sein eigenes Ensemble, das Aurora Orchestra – und führte es innerhalb kürzester Zeit in die europäische Spitze. Bald wurde man auch in anderen Ländern auf den charismatischen Briten aufmerksam; 2018 ernannte ihn das niederländische Residentie Orchester zu seinem Chefdirigenten, 2021 wechselte er in gleicher Funktion zum Finnischen Radio-Sinfonieorchester. Auch in Berlin, Köln, München und Bamberg stand Collon schon am Dirigentenpult. Seine CD-Einspielungen gewannen etliche Preise, darunter den Diapason d'Or für Werke von Thomas Adès und den Echo Klassik mit dem Aurora Orchestra.
Wer sich für Einspielungen französischer Klaviermusik interessiert, kommt um Alexandre Tharaud nicht herum. Mit Aufnahmen von Rameau und Couperin machte er sich einen Namen, später kamen Chabrier, Poulenc, Roussel und das Gesamtwerk von Ravel hinzu. Um diese Musik zu interpretieren, «braucht man Sinnlichkeit und Sinn für Humor», meint der 1968 in Paris geborene Pianist; in einem Wort: «Man muss das Leben lieben». Dass er selbst gern einmal über den Klassikrand hinausschaut, beweisen Alben wie «Swinging Paris» oder «Cinéma». 2012 übernahm Tharaud eine Rolle in Michael Hanekes Oscar-prämiertem Film «Amour», natürlich als Pianist. Seinen ersten eigenen Unterricht hatte er übrigens bei einer Schülerin von Marguerite Long, der Widmungsträgerin und Uraufführungssolistin von Ravels G-Dur-Klavierkonzert.
Im Alter von gut 50 Jahren stand der lange umstrittene Maurice Ravel auf dem Gipfel seines Ruhms. Eine viermonatige USA-Tournee Anfang 1928 wurde zum phänomenalen Erfolg: Das Publikum lernte den Franzosen in seiner ganzen Bandbreite als Komponist, Dirigent und Pianist kennen und dankte es ihm mit stehenden Ovationen. Der kurz danach komponierte «Boléro» erlangte innerhalb kürzester Zeit eine ungeahnte Popularität; Ravel galt nun unangefochten als wichtigster Komponist Frankreichs. Gleichzeitig ging es mit seiner Gesundheit bergab: Er litt unter Schlafstörungen und Konzentrationsschwächen, das Komponieren fiel ihm zusehends schwerer. Und die Uraufführung seines Klavierkonzerts G-Dur musste er 1932 einer Kollegin, der Pianistin Marguerite Long, überlassen.
Begonnen hatte Ravel das Werk 1929, bei einem Urlaub im heimischen Baskenland. Ein Kompositionsauftrag durch den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein, Bruder des berühmten Philosophen, führte dazu, dass er längere Zeit an zwei Klavierkonzerten gleichzeitig arbeitete, die er ganz unterschiedlich anlegte. Während das Konzert für Wittgenstein aus einem einzigen, sehr dichten Satz besteht, ist das G-Dur-Werk klassischer konzipiert. Seine geistigen Ahnherren sind Mozart und Saint-Saëns – Komponisten, die für spielerische Virtuosität und klare Formgebung stehen, Mozart zudem für die Emanzipation der Holzbläser.
Genau diese Elemente prägen das G-Dur-Konzert. In den Ecksätzen greift Ravel auf die traditionelle Sonatensatzform zurück, führt sie aber innovativ weiter. Das Gewicht liegt hier weniger auf der Wiederholung zentraler Themen als auf ihrer ständigen Verarbeitung, Neubeleuchtung, Fortspinnung. So lebt das Hauptthema des 1. Satzes vom Rollentausch: Eingeführt wird es von der Piccoloflöte zu Klavierbegleitung, in der Reprise hingegen führt das Klavier, die Bläser assistieren. Und die zunehmende Dichte des 3. Satzes rührt u.a. daher, dass die wichtigsten Themen am Ende nur noch in komprimierter Form auftauchen.
Neben dem Klavier sind es die Bläser, die entscheidend zum Klangbild des Konzerts beitragen, und zwar in allen drei Sätzen. Mit ihren zahlreichen Einwürfen, gekrönt von einem berückenden Englischhorn-Solo, prägen sie vor allem das Adagio. Aber schon im 1. Satz haben sie einen spektakulären Auftritt, wenn sie direkt vor der grossen Solokadenz des Klaviers eine getragene Horn-Melodie untermalen. Erst das Fagott, dann die Flöten, gefolgt von Klarinette und Oboe – ein Fest der Klangfarben.
Der Gestus des Spielerischen schliesslich entsteht durch die vielen stilistischen Versatzstücke, mit denen Ravel virtuos wie kaum ein anderer Komponist hantiert. So dient der eröffnende Peitschenschlag als Startschuss zu einem höchst turbulenten Geschehen, in dem ein baskisches Volkslied (Piccolo), die Blue Notes des Jazz, Impressionismus und Marschtonfälle munter durcheinander wirbeln.
Ähnlich das überschäumende Finale, dessen kaleidoskopartige Anlage Erinnerungen an Jahrmarkt- oder Zirkusszenen weckt. Im Kontrast hierzu wirkt das Adagio mit seiner unendlichen Melodie und der schlichten Begleitung wie eine Oase der Ruhe. Aber gerade diese Atmosphäre der Entspannung, des ruhigen Fliessens bildete für Ravel, den Perfektionisten, die grösste kompositorische Herausforderung: «Wie habe ich um sie gerungen, Takt für Takt! Fast wäre ich dabei draufgegangen …»
«Der Feuervogel», das ist die Geschichte vom jungen Zarewitsch Iwan, der sich auf der Jagd im Garten des bösen Zauberers Kastschei verirrt. Dort fängt er ein mystisches Naturwesen, den farbenprächtigen Feuervogel. Anstatt den Vogel zu töten, schenkt er ihm die Freiheit, woraufhin sich dieser mit einer seiner Federn bedankt. Als Iwan sich in die schönste der dreizehn Prinzessinnen verliebt, die der Zauberer gefangen hält, soll er getötet werden, doch die Feder schützt ihn. Mit Hilfe des Feuervogels gelingt es ihm am Ende, die in einem Ei eingeschlossene Seele Kastscheis zu zerstören und so dessen Macht für immer zu brechen.
Diesen Handlungsverlauf stellte der Choreograf Michail Fokine für Sergei Diaghilew, den Gründer und Leiter der legendären Ballets russes, aus verschiedenen slawischen Volksmärchen zusammen. Diaghilew hatte das Pariser Publikum schon mit einer ganzen Reihe von Kunstprojekten – neben Balletten auch Ausstellungen und Konzerte – in seinen Bann gezogen; für das Jahr 1910 war ein Tanzabend mit dem «Feuervogel» geplant. Die Musik sollte der Komponist Tscherepnin liefern, der aber ebenso absagte wie sein Kollege Liadow – und nun drängte die Zeit.
In diesem Moment erinnerte sich Diaghilew an einen jungen Komponisten, den er kurz zuvor in St. Petersburg kennengelernt hatte: Igor Strawinski. Von dessen Orchesterwerken war er so begeistert gewesen, dass er ihn zunächst um die Instrumentation einiger romantischer Klavierstücke gebeten hatte, die ebenfalls «vertanzt» wurden. Nun beauftragte Diaghilew den 27-Jährigen mit der Partitur zum «Feuervogel», und Strawinski, der gerade an einem anderen Bühnenwerk nach Andersens «Nachtigall» sass, sagte trotz anfänglicher Bedenken zu. Der Rest ist Geschichte: Die Zusammenarbeit zwischen dem Ballettchef und dem Komponisten führte in den nächsten Jahren zu Meilensteilen der Musikgeschichte, mit dem «Sacre du Printemps» (1913) als Höhepunkt.
Für die Ausarbeitung der opulenten, knapp einstündigen «Feuervogel»-Partitur benötigte Strawinski etwa ein halbes Jahr, von November 1909 bis Mai 1910. Im Anschluss reiste er selbst nach Paris, um den Proben beizuwohnen, und das hiess vor allem: Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn seine rhythmisch anspruchsvolle Musik überforderte manche Tänzer, etwa die für die Titelrolle vorgesehene Primadonna Pawlowa. Als sie absprang, übernahm die junge Tamara Karsawina, die im Rückblick von einem «tränenreichen Lernen» sprach, aber auch von der «Güte und Geduld» Strawinskis. Letztlich lohnte sich die Mühe: Die Uraufführung des Balletts am 25. Juni 1910 wurde zum grossen Erfolg und zum Durchbruch für den Komponisten.
Was die Musik betrifft, so zeigt sich Strawinski hier noch deutlich von den Werken seines Lehrers Rimski-Korsakow beeinflusst. Das betrifft nicht nur die ausgefeilt instrumentierte, ungeheuer farbenreiche Partitur, sondern auch die Personencharakterisierung. Den Menschen, Iwan und seiner Braut, werden Dur- und Moll-Melodien zugewiesen, Kastschei und seinen Helfern dagegen chromatische Passagen; der rätselhafte Feuervogel wiederum hat an beiden Klangsphären teil. Auch andere Vorbilder sind erkennbar, etwa Mussorgski für den hymnischen Schluss des Werks; rhythmisch, harmonisch und spieltechnisch hingegen geht Strawinski selbstbewusst neue Wege. Aus der Ballettmusik stellte er später mehrere Orchestersuiten zusammen, die umfangreichste 1945 nach einer Überarbeitung der Choreografie.